DÄMON UND DÄMONISCHESZu ontologischen Vorstellungen im späten goetheschen Weltbild
I. V. KUMICHEV
(Kaliningrad)
Die beiden6 Konzepte des späten goetheschen Weltbildes – das Dämonische und der Dämon (Daimon) – entsprechen auf den ersten Blick oppositionellen Denkfiguren: die erste – der Revolution, die zweite – der Evolution. Wenn der Dämon, „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“ („Urworte. Orphisch“ [Goethe 1988, I: 359]), als individuelles Entwicklungsgesetz verstanden werden könne, zeige sich das Dämonische nicht als Gesetz, als die sich entwickelnde Form, sondern als Widerspruch und scheine „mit den notwendigen Elementen unseres Daseins willkürlich zu schalten“ („Dichtung und Wahrheit“ [Goethe 1988, X: 175]).
Goethe spricht vom dämonischen Charakter der Französischen Revolution und des Erdbebens von Lissabon. Er sagt Eckermann, das Dämonische manifestiere sich sowohl in den Begebenheiten, „die wir durch Vernunft und Verstand nicht aufzulösen vermögen“, als auch „in der ganzen Natur, in der unsichtbaren, wie in der sichtbaren“ (2. März 1831 [Eckermann 1987: 439]). Die Verwandtschaft der Revolution mit einem Naturprozess unterstreicht Goethe in „Maximen und Reflexionen“: „Jede Revolution geht auf Naturzustand hinaus, Gesetz- und Schamlosigkeit“ [Goethe 1988, XII: 380]. Wie kann aber die Natur mit der Gesetzlosigkeit der Revolution in Verbindung stehen? „Naturzustand“ bedeutet für Goethe hier das Hinausgehen des Menschen über die Grenzen des Verstandes und der Vernunft bzw. über die Grenzen der Ordnung, worin Goethe eine große Gefahr sah. Wo die Vernunft aufhört, die Situation zu kontrollieren, gewinnt das Dämonische sein Recht. In „Maximen und Reflexionen“ äußert sich Goethe [1988, XII: 379] so: „Es ist besser, es geschehe dir Unrecht, als die Welt sei ohne Gesetz. Deshalb füge sich jeder dem Gesetze“.
In der „Belagerung von Maynz“ (25. Juli) schrieb Goethe ebenfalls in diesem Sinn: „Ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen als Unordnung ertragen“ [1988, X: 391]. Hans-Jürgen Schings [2009: 62] bemerkt mit Recht, dass man, bevor man diese Aussage – sich über den Kontext hinwegsetzend – als Teil des typischen Diskurses des „Fürstendieners“ kennzeichne, zuerst präziser bestimmen müsse, was der Dichterfürst unter „Ungerechtigkeit“ und „Unordnung“ verstanden hat. Die Aussage Goethes bildet das Schlusswort der Erzählung von der Rettung eines in dem von deutschen Truppen wiedereroberten Mainz eingeschlossenen Revolutionärs, den die Menge zum Opfer ihrer Rache gewählt hat. Die nicht gelungene Selbstjustiz vor dem Quartier des Herzogs beschreibt Goethe als „Unordnung“, die er nicht ertragen kann – deswegen rettet Goethe den ehemaligen Feind. Doch der Volkszorn scheint ihm gerechtfertigt, Goethe nennt die Wut der Menge „höchst verzeihlich[]“ [Goethe 1988, X: 391]. Auch „das schrecklichste aller Ereignisse“, die Französische Revolution selbst, konnte Goethe als gerechtfertigt anerkennen;7 sie hatte ihren Grund in der Zerstörung der Dämme, die die Flut des Volkszornes zurückhielten. Doch die Gesetzlosigkeit und die Unordnung, die sie zur Folge hatte, waren viel schrecklicher als die Ungerechtigkeit, gegen die das Volk aufgestanden war. Die Folgen der Unordnung – Tyrannei und Zerstörung – schienen Goethe das Schrecklichste. In einem der „Venetianischen Epigramme“ schreibt er:
Frankreichs traurig Geschick, die Großen mögen‘s bedenken;
Aber bedenken fürwahr sollen es Kleine noch mehr.
Große gingen zugrunde doch wer beschützte die Menge
Gegen die Menge? Da war Menge der Menge Tyrann
Die Unordnung, von der Goethe schreibt, die Entmachtung der Vernunft, zeigt sich auch in Begebenheiten anderer Art, die allerdings meist als Parallelen zu den revolutionären Vorgängen verstanden werden können. Es sind Begebenheiten, die im aufgeklärten Menschen leidenschaftliches Interesse an allem Mysteriösen und Geheimnisvollen wecken. Symptomatisch scheint hier die Figur Cagliostros, die Goethe im „Groß-Cophta“ mit der Erweckung des Dämons der Revolution verknüpft. Auch die geheimnisvollen Geschichten aus den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ heben den irrationalen und unvorhersehbaren Charakter der Revolution hervor [vgl. Conrady 1988: 109].
Das Dämonische erscheint den Menschen als Einbruch der unkontrollierbaren Zufälligkeit und zerstörerischer Kräfte, es ist aber paradoxerweise auch mit einem anderen Konzept des späten Goethe eng verknüpft, nämlich mit dem des Dämons. „Dämon“ bedeutet für Goethe die präformierte und unergründliche Ganzheit der menschlichen Individualität. Er stellt zugleich das Gesetz (also die Ordnung) dar, nach dem die Entwicklung des Individuums abläuft. Der Dämon wie auch das Dämonische wirken unabhängig vom menschlichen Willen und oft sogar gegen ihn. Der Dämon erscheint jedoch nicht als Zufälligkeit, sondern als Prinzip der Gestaltung (Bildung). Er verkörpert das Metamorphosenprinzip im Menschen, das Goethe als die Möglichkeit der Versöhnung von Prä- und Postformationsvorstellungen angesehen hat [Canisius 1998: 114]. Gerade die Metamorphosentheorie nimmt, wenn nicht genetisch, so doch typologisch die darwinsche Evolutionstheorie vorweg. Es gilt, das Verhältnis der Konzepte von Dämon und Dämonischem zu präzisieren, um den Widerspruch aufzulösen; denn wie kann man von der Verknüpfung zweier Konzepte sprechen, die gegensätzlichen Prinzipien zuzuordnen sind?
Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, das Verhältnis zwischen den widersprüchlichen Konzepten von Dämon und Dämonischem [vgl. Schulz 1993: 179] näher zu erläutern und die Frage zu beantworten, in welchem Sinn die Französische Revolution für Goethe etwas „Dämonisches“ war.
Im ersten Teil werde ich kurz auf das Problem der dämonischen Natur (d.h. der Persönlichkeit) eingehen. Im zweiten Teil wird die Gemeinsamkeit beider Konzepte in ihrem Anteil an der Entelechie näher erläutert. Abschließend wende ich mich nach einigen Bemerkungen zum Problem der Willensfreiheit in Goethes Weltbild der Frage zu, welchen Schluss die Vorstellungen von Dämon und Dämonischem zulassen und damit der Frage, inwiefern die Französische Revolution für Goethe dämonisch und unabwendbar war.
Man ist sich allgemein darüber einig, dass der Hauptunterschied zwischen dem Dämonischen und dem Dämon darin liegt, dass hinter dem ersten Konzept eine über- oder unpersönliche Macht steht, die von außen kommt und dem Individuum grundsätzlich fremd ist [Danckert 1951: 464; Kemper 2004: 448; Jäger 2013: 111]. Der Dämon dagegen ist allen Individuen als das individuelle Gesetz der Entwicklung eigen. Eine präzisere Beschreibung beider Konzepte sollte meines Erachtens von ihren Gemeinsamkeiten ausgehen. Einer der Punkte, in dem sich Dämon und Dämonisches überschneiden, ist Goethes Konzeption der dämonischen Persönlichkeit.
Das Dämonische manifestiert sich für Goethe in der Natur, in historischen Begebenheiten, aber auch in der Kunst und im einzelnen Menschen, genauer gesagt in bedeutenden und außerordentlichen Persönlichkeiten, deren Taten „durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen sind“ (siehe z. B. die Gespräche mit Eckermann vom 11. März 1828 und vom 30. März 1831 [Eckermann 1987: 461, 623–627]). Am besten lassen sich Goethes Gedanken über das Dämonische anhand von „Dichtung und Wahrheit“, seinen Gesprächen mit Eckermann und „Egmont“ nachvollziehen. Vom Dämon spricht Goethe in erster Linie im Gedicht „Urworte. Orphisch“. Das Gedicht wurde im Herbst 1820 in der Zeitschrift „Zur Metamorphose“ veröffentlicht und soll im Folgenden im Kontext von Goethes Morphologie betrachtet werden.
Forscher, die vor allem die Unterschiede zwischen den Konzepten von Dämon und Dämonischem stark machen, verwechseln die Konzepte manchmal miteinander. So betrachtet z. B. Jana Jäger [2013: 39, 42] die Figuren von Egmont und Werther als Beispiele für die Wirkung des Dämons. Ihr Hauptargument dafür ist das Unvermögen beider Figuren, ihrem Schicksal zu entrinnen und „anders zu handeln“. Egmont ist aber eine außerordentliche Persönlichkeit, die ihrem Schicksal weder entrinnen kann noch will. Jeder hat seinen eigenen Dämon, doch das Erhabene und das Tragische gerade dieser Figur liegt im absoluten Unvermögen, eine andere Handlungsweise zu denken, sowie in einer „Produktivität“ [Eckermann 1987: 630], einem Schaffensdrang, der sich, unabhängig von allen Hindernissen, allen Eingriffen des Schicksals realisiert.
Egmont ist gestaltet als eine jener außerordentlichen Persönlichkeiten wie Peter der Große, Napoleon, Carl August oder manche Künstler (Raffael, Mozart, Paganini), welche Goethe als dämonische Naturen oder dämonische Wesen ansah. Solche Persönlichkeiten verfügen in Goethes Denken über jene unbegrenzte und positive Schaffenskraft, durch die sie in der Lage sind, große Wirkungen hervorzurufen. Woher saber kommt diese Kraft, die Unruhe mit sich bringt und die menschliche Produktivität ins Unendliche drängt, sodass z. B. Carl August – laut Goethe – „sein eigenes Reich […] zu klein war und das größte ihm zu klein gewesen wäre“? (Gespräch mit Eckermann, 2. März 1831 [Ekkermann 1987: 438–439]) Diese Kraft ist ein Zeichen der Besessenheit,8 sie kann nicht vom Innern des Menschen ausgehen oder vom inneren Gesetz der Entwicklung vorbestimmt sein. Sie kommt von außen und ist die Kraft des Dämonischen. Ich denke, hier wirkt das Dämonische mit dem Dämon zusammen: jenes aktualisiert und beschleunigt die Realisierung des zweiten. Goethe formulierte gegenüber Eckermann: „Des Menschen Verdüsterungen und Erleuchterungen machen sein Schicksal!