Русская германистика. Ежегодник Российского союза германистов. Т. 15. Революция и эволюция в немецкоязычных литературах — страница 8 из 57

Es täte uns not, daß der Dämon uns täglich am Gängelband führte und uns sagte und triebe, was immer zu tun sei. Aber der gute Geist verläßt uns, und wir sind schlaff und tappen im Dunkeln“ (Gespräch mit Eckermann vom 11. März 1828 [Eckermann 1987: 624]). Der Dämon bedeutet hier nicht Daimon, sondern das personifizierte Dämonische.

Am engsten verflochten sind Dämon und Dämonisches in der Musik. Im Gespräch mit Eckermann vom 8. März 1831 sagt Goethe, das Dämonische sei „in der Musik im höchsten Grade, denn sie steht so hoch, daß kein Verstand ihr beikommen kann, und es geht von ihr eine Wirkung aus, die alles beherrscht und von der niemand imstande ist, sich Rechenschaft zu geben“ [Eckermann 1987: 441]. Die Musik ist nach Goethe also dämonisch und kann deswegen uneingeschränkt wirken. Auch seien die Musiker unter den Künstlern am stärksten von der dämonischen Kraft bewegt. Darauf verweist Goethe im Gespräch mit Eckermann vom 2. März 1831: „Unter den Künstlern findet es [das Dämonische. – I. K.] sich mehr bei Musikern, weniger bei Malern. Bei Paganini zeigt es sich im hohen Grade, wodurch er denn auch so große Wirkungen hervorbringt“ [Eckermann 1987: 439]. Die Musik ist nach Goethe also dämonisch, sie wirkt durch einen Musiker, aber nicht aus ihm. Um ein Medium der Musik zu sein, müsse man aber auch musikalisches Talent haben. In einem früheren Gespräch (vom 14. Februar 1831) spricht Goethe vom musikalischen Talent: es zeige sich am frühesten, da „die Musik etwas Angeborenes, Inneres ist, das von Außen keiner großen Nahrung und keiner aus dem Leben gezogenen Erfahrung bedarf. Aber freilich, eine Erscheinung wie Mozart bleibt immer ein Wunder, das nicht weiter zu erklären ist.“ [Eckermann 1987: 421]. Im musikalischen Talent scheinen Dämon – da es sich um eine angeborene und innere Fähigkeit handelt – und Dämonisches vereinigt zu sein. Die Frage aber bleibt: was bedeutet es, eine dämonische Persönlichkeit zu sein? Ich meine, jeder ist mehr oder weniger dem Dämonischen unterworfen, doch nicht jeder ist eine dämonische Persönlichkeit in Goethes Verständnis. Auch zählte Goethe sich selbst nicht zu den entsprechenden Personen: „In meiner Natur liegt es nicht“ – sagt Goethe – „aber ich bin ihm unterworfen“ [Eckermann 1987: 438]. Wie kann man aber etwas Dämonisches in seiner Natur haben, wenn das Dämonische selbst eine von außen wirkende und dem Individuum fremde Kraft ist? Hier stoßen wir vielleicht an das Fundament von Goethes Vorstellungen über den Dämon und das Dämonische, welches von mythologischem Denken geprägt ist und dadurch eine diskursive Auffassung jener Vorstellungen verhindert. Man kann vermuten, dass die Möglichkeit der produktiven Perzeption der dämonischen Persönlichkeit durch das Dämonische für Goethe im Wesen des Dämons liegt. Das Dämonische zeigt sich im Individuum als „Erleuchtung“ und Steigerung der Entelechie [vgl. Kemper 2004: 444]. Gerade dieser Begriff der Entelechie (zu Goethes Verständnis dieses Begriffs vgl. [Hilgers 2002: 82–139]), der sowohl für das Dä-monische wie auch für den Dämon von Bedeutung ist, könnte das Zusammenwirken beider näher erklären.

2. Dämon – Entelechie (Monade) – Dämonisches

Aristoteles bringt in der „Metaphysik“ die Begriffe der energeia (ἐνέργεια) und entelecheia (ἐντελέχεια) miteinander in Verbindung, da er beide zum Bereich der Wirklichkeit rechnet und erklärt, die energeia sei eher der Vorgang, die Aktualisierung im Seienden und somit das Streben nach der vollendeten Wirklichkeit (entelecheia) (vgl. Aristoteles, Metaphysik IX, 3, 1047a 30–35 [Аристотель 1976: 238] bzw. Metaphysik, IX, 8, 1050a 20 [Аристотель 1976: 246]). „Die Entelecheia steuert die Verwirklichung eines im Seienden angelegten Vermögens. Als Ausgang und Ziel der Bewegung bewirkt sie die Realisation der angestrebten Form. In diesem Sinne kann das Zusammentreffen von Vorgang und Zustand der Verwirklichung als Entelechie bezeichnet werden“ [Hilgers 2002: 18]; somit lässt sich die Entelechie auch als wichtige Parallele zu Goethes Begriff der Metamorphose sehen, denn gerade die Metamorphosentheorie (Morphologie, Gestaltenlehre) war ein Versuch, Prä- und Postformationstheorie zu versöhnen [Canisius 1998: 109] und auf die Frage zu antworten: „Wie kann etwas geformt sein eh es ist“? „Die Morphologie ruht auf der Überzeugung, daß alles was sei sich auch andeuten und zeigen müsse“ führt Goethe in der kleinen fragmentarischen Schrift „Morphologie“ [1887–1919, II: 6/54] aus. Das Wesen, das Innere hat also einen Drang, sich als eine Gestalt auszudrücken. Der Begriff „Gestalt“ steht bei Goethe in erster Linie für etwas, das „nur für den Augenblick festgehalten werden kann“: „Gestalt ist ein bewegliches, ein werdendes, ein vergehendes. Gestaltenlehre ist Verwandlungslehre“, so Goethe [1887–1919, II: 6/54]. Die Gestaltung meint jedoch die Entwicklung, die Metamorphose einer inneren Gestalt, die von der äußeren zu unterscheiden ist. Die „innere Gestalt“, schreibt Claus Canisius, „zeigt sich somit als ein Prozess der Verwandlung“ [2002: 101]. Deswegen könne sie auch als Entelechie verstanden werden, indem die äußere Gestalt, die man nur für den Augenblick festhalten kann, den energeia-Aspekt ausdrücke. Meist setzt Goethe Entelechie mit dem Begriff der Monade gleich und verwendet den Ausdruck fast immer9 auf das Individuum bezogen10. So sei auch der Dämon eine „geprägte Form“ bzw. Gestalt, aber eben eine, „die lebend sich entwickelt“, wie Goethe in „Urworte. Orphisch“ [Goethe 1988, I: 359] formuliert. Goethe fasst die Monade nicht als eine in sich geschlossene, sondern als eine lebendige, „bipolare Einheit auf, die aktives und passives Vermögen, Individuum und Welt, Subjekt und Objekt in sich vereint“ [Hilgers 2002: 149]. Die lebendige Entwicklung besteht im Ausdehnen ins Objekt und dem Zusammenziehen ins Subjekt, die beide eine Einheit bilden und trotzdem nicht identisch sind.11 Ein Schlaglicht auf das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt in der Monade wirft die Stelle eines Briefes von Goethe an Schlosser vom 19. Februar 1815, wo Goethe Schlossers Annahme widerspricht, das Subjekt sei wie der Mollton in der Musik, „der Natur fernste“, da es wie jener „das Gemüth am entschiedensten gegen die Natur kehrt“ (Schlosser an Goethe, 11. Februar 1815 ([Dreyer 1985: 154]):

a) In der Natur ist alles was im Subjekt ist.

y) und etwas drüber.

b) Im Subjekt ist alles was in der Natur ist.

z) und etwas drüber.

b kann a erkennen, aber y nur durch z geahndet werden. Hieraus entsteht das Gleichgewicht der Welt und unser Lebenskreis, in den wir gewiesen sind.12

Y und z sind diskursiv nicht erfassbar, doch gerade ihr Verhältnis bestimmt den Zusammenhang zwischen dem individuellen Gesetz und der Weltordnung innerhalb einer Monade. Das Inkommensurable in der Natur sowie im Menschen lässt sich, so Goethe in seiner Schrift „Versuch einer Witterungslehre“, nur „im Abglanz, im Beispiel, Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen“ [Goethe 1988, XII: 305] betrachten – also als etwas Werdendes, Vergehendes, sich Verwandelndes. Die Konzepte von Dämon und Dämonischem scheinen y und z insoweit zu ähneln, als Goethe mit ihnen ebenfalls versucht, das Unbegreifliche zu erfassen.

3. „…Gegen das Dämonische recht zu behalten suchen“: die letzte Freiheit des Menschen

Das Bild der prästabilierten Harmonie, wonach das Innere sich durch die Wirkung der „Weltregierung“ erhöht und anregt, zerbricht an den konkreten Erfahrungen Goethes: den Erfahrungen der Gräuel der Revolution, der Besatzung, des Todes enger Vertrauter, von Ungerechtigkeit, die sich durch Gesetz und Ordnung nicht mehr ohne weiteres rechtfertigen lassen. Goethe war weder Utopist noch Optimist. Das Bild hat darum auch eine andere Seite: Der kleine Mensch ist eingeklemmt zwischen dem Gesetz seiner unbekannten Individualität und dem inkommensurablen Gesetz der Welt, das sich auch als ungeheure Katastrophe offenbaren kann, sodass das zweite Gesetz sich nur durch das erste, unbekannte ahnen lässt. Bleibt in dieser Welt damit überhaupt noch Platz für freies Handeln?

Wenn Goethe sich auch vom Dämonischen leiten lässt, so bedeutet das keineswegs Selbstvergessenheit oder die Selbsthingabe an den Willen höherer Kräfte. Vielmehr behauptet er, der Mensch könne und müsse auch angesichts des Dämonischen frei handeln – natürlich in einem bestimmten Rahmen: er sei also verantwortlich für die Verwirklichung seiner inneren Regungen.13 Am 18. März 1831 äußerte Goethe gegenüber Eckermann: „Nur muß der Mensch […] auch wiederum gegen das Dämonische recht zu behalten suchen, und ich muß in gegenwärtigem Fall dahin trachten, durch allen Fleiß und Mühe meine Arbeit so gut zu machen, als in meinen Kräften steht und die Umstände es mir anbieten“ [Eckermann 1987, 450–451]. Etwas früher (am 11. März 1828) spricht Goethe von zwei Arten der Produktivität: in der ersten vereinigten sich Dämon und Dämonisches, die zweite aber bleibe dem Menschen überlassen:

Jede Produktivität höchster Art […] steht in niemandes Gewalt und ist über aller irdischen Macht erhaben. […] Es ist dem Dämonischen verwandt, das übermächtig mit ihm tut, wie es beliebt, und dem er sich bewußtlos hingibt, während er glaubt, er handle aus eigenem Antriebe. In solchen Fällen ist der Mensch oftmals als ein Werkzeug einer höheren Weltregierung zu betrachten […].

Sodann aber gibt es jene Produktivität anderer Art, die schon eher irdischen Einflüssen unterworfen ist und die der Mensch schon mehr in seiner Gewalt hat, obgleich er auch hier immer noch sich vor etwas Göttlichem zu beugen Ursache findet. In diese Region zähle ich alles zur Ausführung eines Planes Gehörige, alle Mittelglieder einer Gedankenkette, deren Endpunkte bereits leuchtend dastehen; ich zähle dahin alles dasjenige, was den sichtbaren Leib und Körper eines Kunstwerkes ausmacht [Eckermann 1987: 630–631].